Möchte
ich in fremden Gehirnen lesen können, vor allem jetzt in seinem –
wo ich sowieso schon zu viel weiß? Für meinen Beruf wäre es von
Vorteil. In diesem Fall aber … Nein, wahrscheinlich möchte ich es
nicht.
Ich
leite den Mann zu dem Platz, an den er sich in den Sitzungen gewöhnt
hat. Ich ahne, was wirklich war, aber ich sträube mich gegen die
Wahrheit. Wie er.
Er
hatte sich freiwillig gemeldet. Sondereinsatz, Sonderprämie. Sie
übertrugen die Erfahrungen ihrer überlegenen Demokratie auf das
Land dieses Diktators. Klar wurde auf sie geschossen, mussten sie für
Ordnung sorgen, Waffen einsetzen, mit Splittern und Strahlen alle
potentiellen Mörder und Terroristen für immer handlungsunfähig
machen. Diesmal war er dran, im Schutzanzug die Haufen
zusammenzukarren, damit sie umweltverträglich entsorgt würden.
Da
entdeckte er sie.
Es
war eigentlich unmöglich. Die eingesetzten Befriedungsmittel durften
kein Leben zurücklassen, menschliches schon gar nicht. Doch ihre
Augen sahen ihn an. Sie waren groß und wunderschön. Dunkelbraun,
fast schwarz wie die feuchte, fruchtbare Krume seiner Heimat, frisch
durchgegrubbert nach der Schneeschmelze im März. Sie schienen zu
sagen, ich habe dich lieb, du Gespenst. Ich will dich retten. Hatte
er das gelesen? Von diesem Gespenst von Canterville? War er das
Gespenst, das gerettet werden musste? Wieso sollte er gerettet ...
Er
achtete nicht auf die anderen ringsum. Sah nur dieses Mädchen. Zog
es aus dem Berg von Schutt und Körpern hervor. Es war verschwitzt.
Eine kleine Schramme an der linken Schläfe wurde vom sandsatten
schwarzen Kraushaar halb verdeckt, ansonsten aber schien es
unverletzt. Das Kleid oder wie man dieses Kleidungsstück nennen
mochte, Burnus oder so, war gleichfalls an der linken Schulter
zerrissen, so weit, dass es eine bubenhafte Brustwarze hervorschauen
ließ. Das Mädchen hatte nicht die Kraft, die Blöße zu bedecken.
Leben war nur noch in seinen Augen.
Für
einen Moment wollte er das Kind zum Rest stoßen. So verstrahlt, wie
es war, würde es sowieso bald sterben. Ein Gnadenschuss würde es
vor Qualen bewahren. Aber da war immer noch dieser Blick, diese
Augen.
Was
für ein Unsinn! Was dachte er ausgerechnet jetzt an Samantha, die so
gern ein Kind gehabt hätte? Ein unbegreiflicher Reflex bewegte
seinen Mund: „Wie heißt du, Mädchen?“
Er
dachte sofort: Sam, bist du blöd! Sie kann dich nicht verstehen. Du
müsstest durch deinen Anzug viel lauter sprechen. Und selbst dann –
woher sollte dieses Mädchen deine Sprache kennen?
Da
hörte er Laute aus ihrem Mund: „Heißt du Mädchen Abea.“
Der
Sergeant Samuel Mc Fadden packte das Kind an den Armen, schleppte es
von dem Körperentsorgungshaufen fort zu seiner Batterie, und er
drehte sich auch nicht um, als hinter ihm die Flammen mit einem
dumpfen Puffen anfingen, den anderen Körpern Gnade zu erweisen.
***
Sie
war über eine Schwelle getreten.
Hinter
ihr war nichts, jedenfalls nichts, woran sie sich hätte erinnern
können. In diesem Moment wusste sie nicht mehr, was sie jemals
erlebt hatte, vor allem nicht, was gerade passiert war. Nur, dass sie
sich nicht bewegen konnte. Um sie herum stank es fürchterlich und
niemand war da, bei dem sie das hätte beklagen können.
Plötzlich
stand ES vor ihr. ES war sehr groß, glänzte weiß, hatte keine
Haare, keinen richtigen Mund, aber riesige ovale Augen. Beine auch,
aber die bemerkte sie erst später. Sie bestaunte die fremden
Riesenaugen.
Du
wirst mir nichts tun. Ich habe dich lieb. Ich habe überhaupt keine
Angst vor dir. Ich habe dich lieb.
Abea
wunderte sich. Deutlich verstand sie, dass ES an eine Samantha
dachte. Die hatte traurige blaue Augen und locker auf die Schulter
fallende Haare von der Farbe der Wüste bei Windstille. ES dachte
Gnadenschuss und Abea hätte zu gern gewusst, was das bedeutete. ES
wollte wissen, wer sie war. Und Abea nahm die Worte von IHM und
ergänzte ihren Namen.
Abea
zögerte. Sie wollte zurückfragen, aber ES würde sie ja nicht
verstehen. Da riss ES sie nach oben, und Abea sah vor sich einen
schwarzen Himmel.
***
„Ich
kann Ihnen das nicht erklären. Glauben Sie mir. Ich würde gern,
aber ich kann es mir selbst nicht erklären. Die meisten Zellen ihrer
Abea sind radioaktiv aufgeladen. Aber sie strahlen nicht nach außen.
Und das Seltsamste: Ich kann bisher keinerlei krankhafte
Veränderungen feststellen.“
„Bitte,
Herr Doktor, reden Sie Klartext! Wie lange hat sie noch zu leben?“
...